Die von der Europäischen Kommission veröffentlichte „Farm-to-Fork“-Strategie (F2F-Strategie) bedeutet nichts weniger als eine Transformation und Sicherung unseres Ernährungssystems hin zu einer nachhaltigeren und gerechteren Erzeugung von Lebensmitteln. Im Rahmen des kürzlich beendeten transnationalen Forschungsprojektes RYE-SUS wurde ein vollkommen neues Konzept erarbeitet, auf dessen Grundlage Brot- und Futtergetreide künftig mit weniger Düngemittel und Pflanzenschutz produziert werden kann. Dr. Dörthe Siekmann, HYBRO Saatzucht, stellt es vor.
Im Fokus stand der Roggen, der besonders in Europa einen wichtigen Beitrag für die Kulturartenvielfalt in Getreidefruchtfolgen leistet. Als Fremdbefruchter besitzt Roggen großes Potenzial, sich an die stetig ändernden Anforderungen anzupassen. Die natürliche genetische Vielfalt und mehr als 100 Jahre Züchtungsforschung ermöglichen es beim Roggen, das biologische Phänomen der Heterosis zu nutzen (Hackauf B, Siekmann D, Fromme FJ, 2022). Über die Hybridzüchtung kann so systematisch das Ertragspotenzial des Roggens ohne zusätzlichen Bedarf an Flächen oder Düngemitteln gesteigert.
Klimaschutzleistung durch Roggenanbau
Im Rahmen des von der HYBRO Saatzucht koordinierten Forschungsverbundes konnte das Julius Kühn-Institut (JKI) in Zusammenarbeit mit dem Bundessortenamt und der Universität Hohenheim erstmalig belegen, dass der Zuchtfortschritt bei Roggen und Weizen einen Beitrag zur Verringerung des CO2-Fußabdruckes leistet (Riedesel L. et al., 2022). Aufbauend auf einem umfangreichen Sortenversuchsdatensatz, der beim Roggen 10.523 und beim Weizen 27.652 Kombinationen aus Sorte (Genotyp), Umweltbedingungen und Anbaumaßnahmen (Management) enthielt, wurde der Beitrag des Züchtungsfortschritts auf die Klimawirkung der Landwirtschaft untersucht. Für hochproduktive Roggenhybriden wurde im Vergleich zu Weizen eine um ca. 20 % geringere Emission von Treibhausgasen je Hektar und ein um ca. 8 % geringerer CO2-Fußabdruck nachgewiesen. Eine Ausweitung des Roggenanbaus könnte also einen Beitrag zum Klimaschutz und zur nachhaltigen Getreideproduktion leisten.
Mit Halbzwergen aus der Nische zum Trendsetter
Im konventionellen Landbau wurden 2020 nur 10 %, im ökologischen Landbau immerhin 18 % der landwirtschaftlich genutzten Fläche für die Produktion von Roggen genutzt (Abb. 1). Um Roggen aus seiner gegenwärtigen Nische zu führen und zu einem zukunftsweisenden Getreide zu entwickeln, wurde im Rahmen von RYE-SUS eine innovative Strategie verfolgt, die sich grundlegend von derzeitigen Methoden zur genetischen Verbesserung von Roggen und Weizen unterscheidet.
Im Gegensatz zum Kornertrag wurde in den Merkmalen Wuchshöhe und Standfestigkeit in den letzten 30 Jahren durch Hybridzüchtung kein signifikanter Zuchtfortschritt erreicht. Im konventionellen Roggenanbau werden daher Ertrag und Qualität durch Wachstumsregler abgesichert. Beim Einsatz von Wachstumsreglern ist die Wahl des korrekten Einsatzzeitpunkts und der richtigen Aufwandmenge jedes Jahr herausfordernd. Ungünstige Wetterbedingungen erschweren die Wahl der optimalen Wachstumsreglerstrategie zusätzlich. Ein Zuwenig bedeutet Lager, ein Zuviel zieht Ertragseinbußen nach sich. Vor über 50 Jahre wurde in der Sammlung pflanzengenetischer Ressourcen am Vavilov-Institut in St. Petersburg erstmals das Kurzstrohgen Ddw1 beschrieben. Dieses hat die HYBRO Saatzucht in Zusammenarbeit mit dem Julius Kühn-Institut in Groß Lüsewitz in moderne Saatelterlinien eingekreuzt, damit auf den Einsatz von Wachstumsregler verzichtet werden kann. Genetische Fingerabdrücke ermöglichen es, bereits wenige Tage nach der Aussaat und mit großer Genauigkeit die gewünschte Genvariante in den Kreuzungsnachkommenschaften zu identifizieren. Acht Jahre nach den ersten Kreuzungen konnten die ersten 48 Prototypen mit genetischer Halmverkürzung 2021 umfassend im Roggengürtel Europas sowie an Standorten in Kanada unter landwirtschaftlichen Praxisbedingungen geprüft werden.
Mehr Standfestigkeit = verbesserte Klimabilanz und geringere Kosten
Die Prototypen unterschieden sich deutlich von konventionellen, normalstrohigen Hybriden. Die ausgeprägte Homogenität und Beständigkeit dieser sogenannten Halbzwerge im Merkmal Wuchshöhe belegt die methodischen Vorzüge der Hybridzüchtung bei der Nutzung des Kurzstrohgens. Auch nach Starkniederschlagsereignissen von bis zu 200 l/m2 bleiben die Halbzwerge stehen! Neben dieser beeindruckenden Standfestigkeit verfügen diese Pflanzen auch über eine verbesserte Druschfähigkeit, welche die Klimaschutzleistung zusätzlich erhöht und Betriebskosten durch Einsparung fossiler Treibstoffe bei der Ernte verringert. Ein weiterer Vorzug im Vergleich zu konventionellen Hybriden ist das verbesserte Strohmanagement.
Effektive Mutterkornabwehr ohne Kompromisse
Seine einzigartige Reproduktionsbiologie macht Roggen besonders anfällig gegenüber Mutterkorn. In der Zeit vom Aufbrechen bis zum Verblühen ermöglichen offene, unbefruchtete Blüten den Mutterkornsporen, eine Bestäubung zu imitieren und die Ovarien der Wirtspflanze zu infizieren. Eine schnelle Befruchtung ist daher der zentrale Mechanismus zur Mutterkornabwehr.
Bei Populationssorten beruht der Kornansatz seit jeher auf Fremdbefruchtung, der Transfer des Pollens auf eine nicht verwandte Pflanze ist zwingend erforderlich. Insbesondere feucht-kühle Witterung zum Zeitpunkt der Blüte beeinträchtigt jedoch die Flugfähigkeit von Roggenpollen. Dies erhöht die Anfälligkeit gegenüber Mutterkorn. Hybridroggen ist hingegen in der Lage, sich auch selbst zu befruchten. Damit muss der Pollen für den Kornansatz keine großen Distanzen überbrücken, was ein entscheidender Vorteil gegenüber dem Mutterkornpilz ist. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die männliche Fertilität einer Pflanze wieder vollständig hergestellt ist. Grundlage dafür ist die Nutzung sogenannter Restorergene. Bislang erreichen jedoch nur wenige Hybriden in der Wertprüfung durch das Bundessortenamt eine Mutterkornabwehr auf dem Niveau von Populationsroggen. Dies lässt darauf schließen, dass die Voraussetzungen für eine bestmögliche Mutterkornabwehr in Hybriden noch nicht vollständig erfüllt sind.
Halbzwerge des Pampa (P) Zytoplasma-Typs im Roggen (links) im Vergleich
zu den Triticalesorten ‚TULUS‘ (Mitte) und ‚Grenado‘ (rechts).
Halbzwerge tragen das Kurzstrohgen Ddw1 mischerbig (Ddw1.ddw1), während ‚Grenado‘ reinerbig für Ddw1 ist (Ddw1.Ddw1). ‚
TULUS‘ trägt das Kurzstrohgen Ddw1 nicht (ddw1.ddw1). (Quelle: B. Hackauf, Julius Kühn-Institut)
„Neue“ Restorergene zur Verbesserung der Mutterkornabwehr
Neben dem bislang züchterisch genutzten Restorergen Rfp1 sind weitere effektive Restorergene aus anderen genetischen Ressourcen des Roggens bekannt. In den Exaktversuchen des Projektes RYE-SUS zeichneten sich Halbzwerge mit den bislang nicht genutzten Genen Rfp2 bzw. Rfp4 durch eine signifikant höhere Ertragsleistung im Vergleich zu Prototypen mit Rfp1 aus. In den Halbzwergen wirken auch heimische Restorergene als zusätzliche Versicherung für die aufnehmende Hand, um die ab 2024 geltenden neuen Grenzwerte für den Besatz von unverarbeitetem Roggen mit Mutterkornsklerotien und Ergotalkaloiden wirkungsvoll einhalten zu können.
Aufgrund überzeugender Leistungen stehen seit August 2022 die ersten Halbzwerge mit hoher Mutterkornabwehr in der Wertprüfung des Bundessortenamtes.
Zusammenfassung
Als neue Getreideinnovation unterstützen Halbzwerge beim Roggen drei Bereiche von grundlegender Bedeutung für die Bewältigung der Nahrungsmittelproduktion unter den Bedingungen des Klimawandels: (1) die verstärkte Integration von Roggen in Produktionssysteme, (2) die Verbesserung der Verarbeitbarkeit pflanzlicher Produkte und (3) die Verringerung des Inputs in der Landwirtschaft. Eine breitere Aufstellung der Getreideproduktion mit Halbzwergen stabilisiert die Getreideproduktion und die Lebensmittelmärkte – und damit die Ernährungssicherheit auch im Rahmen der F2F-Strategie.
Weiterführende Literatur:
Hackauf B, Siekmann D, Fromme FJ (2022) Improving Yield and Yield Stability in Winter Rye by Hybrid Breeding. Plants, 11(19), 2666. doi: 10.3390/plants11192666
2Riedesel L, Laidig F, Hadasch S, Rentel D, Hackauf B, Piepho H-P, Feike T (2022) Breeding progress reduces carbon footprints of wheat and rye. J Clea. Prod. 377:134326. doi: 10.1016/j.jclepro.2022.134326.
Bilder: Hybro Saatzucht